Am 12. Januar hat die grün-rote Landesregierung in Baden-Württemberg eine ambitionierte Radstrategie mit erfreulich vielen Maßnahmen zur Förderung von Cargobikes beschlossen.
[Update, 31. Mai 2016: Der neue Grün-Schwarze Koalitionsvertrag für Baden-Württemberg vom 9. Mai 2016 bekennt sich auf Seite 115 zur RadSTRATEGIE und erwähnt Cargobikes: „Auch im Bereich der Citylogistik eröffnen sich durch den Einsatz von Lastenpedelecs neue Potenziale.“ Der Grünen-Politiker Winfried Hermann ist weiterhin Landesverkehrsminister.]
„RadSTRATEGIE Baden-Württemberg – Wege zu einer neuen Radkultur für Baden-Württemberg“ heißt das Dokument mit 160 Seiten. Es bildet laut Vorwort „die konzeptionelle und strategische Grundlage für die Radverkehrsförderung in Baden-Württemberg bis zum Jahr 2025“ und „konkretisiert die Rahmensetzung des Bundes auf Landesebene“. Letzteres ist ein gelungenes Understatement. Denn dem Nationalen Radverkehrsplan 2020 (NRVP) der Bundesregierung fehlt es nicht nur an konkreten Maßnahmen sondern auch an einem ambitionierten Ziel. Ein Radverkehrsanteil von bundesweit 15 Prozent am Modal Split bis 2020 – das wäre ein Plus von 50 Prozent gegenüber zehn Prozent Radverkehrsanteil im Jahr 2008 – wird lediglich für möglich gehalten.
Die Radstrategie Baden-Württembergs enthält eine 30seitige Maßnahmentabelle und strebt 16 Prozent Radverkehsranteil bis 2020 an – ein Plus von 100 Prozent gegenüber 8 Prozent im Jahr 2008. Im Jahr 2030 sollen es dann 20 Prozent sein. Die message ist klar: Hier meint man es ernst mit der Radverkehrsförderung! Allen voran der grüne Verkehrsminister Winfried Hermann, der sich gerne auch demonstrativ auf ein Cargobike setzt.
Radstrategie mit acht Handlungsfeldern
Um die gewünschte Steigerung des Radverkehrs zu erreichen definiert die Radstrategie acht Handlungsfelder mit rund 30 Zielen und über 200 Maßnahmen. Cargobikes werden ausführlich im siebten Handlungsfeld „Elektromobilität, Forschung und Innovation, Fahrradwirtschaft“ behandelt. In der Einführung zu dessen Unterkapitel „Elektromobilität“ heißt es:
„Die Einsatzbereiche des Fahrrades vergrößern sich durch die elektrische Tretunterstützung. Lastenräder mit elektrischer Unterstützung kommen als Familienfahrzeug und in vielen Wirtschaftsbranchen zum Einsatz. Im innerstädtischen Lieferverkehr vergrößern beispielsweise Unternehmen ihre Wettbewerbsfähigkeit durch den Einsatz flexibler, elektrisch unterstützter Lastenräder. […] Für die private Nutzung entstehen zunehmend Angebote zur Ausleihe von Lastenpedelecs. Neue Konzepte wie modulare Lastenräder werden in Forschung und Wirtschaft angedacht und verbreiten sich.“
Allerdings:
„Die Verfügbarkeit von Lastenrädern ist noch zu gering. Für potenzielle Nutzergruppen bestehen kaum Testmöglichkeiten für unterschiedliche Fahrzeugkonzepte. Abstellmöglichkeiten für Lastenräder fehlen.“
Die Landeshauptstadt Stuttgart ist ein gutes Beispiel für eine geringe Verfügbarkeit. Ein Blick in die bundesweite Händlersuche des VCD ergibt gerade mal zwei Händler in Stuttgart: Transvelo hat das einspurige Load von Riese & Müller im Programm und seit 2015 gibt es mit Hyggelig-Bikes einen Händler für dreirädrige Christiania-Bikes. Ein kleines Verleihangebot bietet die nichtkommerzielle Initiative lastenrad-stuttgart.de. Das war’s dann in der Landeshauptstadt, in der seit Anfang dieser Woche erstmalig Feinstaubalarm gilt und zum Verzicht auf das Autofahren aufgerufen wird.
Cargobikes für den Landesfuhrpark
Im Unterkapitel „Elektromobilität“ der Radstrategie folgen in Sachen Cargobikes zwei Maßnahmen: Die „Schaffung flächendeckender pedelec- und lastenfahrradtauglicher Rahmenbedingungen bei der Radverkehrsinfrastruktur“ und die „Anschaffung von Pedelecs in der Verwaltung als Dienstfahrzeuge“, um „die Nutzung von Pedelecs und Lastenrädern bei Dienstfahrten“ zu steigern. Bisher gäbe es über 200 Pedelecs im Landesfuhrpark, davon mehr als die Hälfte bei der Polizei. Leider fehlt als Vergleich die Zahl der Kraftfahrzeuge im Landesfuhrpark (laut Stuttgarter Zeitung hat allein die Polizei 5.200 [!] Dienstfahrzeuge) und es fehlt eine konkrete Zielmarke für Diensträder im Landesfuhrpark. Allerdings ist in der Maßnahmentabelle ein konkretes Einsatzgebiet genannt:
„Die Landesregierung schafft einen Pool von Lastenrädern, auch E-Lastenräder an. Damit werden Postwege zwischen den Ministerien (Transport von Akten, Post etc.) mit dem Fahrrad zurückgelegt.“
5 % Lieferverkehr mit Cargobikes
Im nächsten Unterkapitel „Forschung und Innovation“ folgt eine Feststellung, die sich in ähnlicher Weise auch schon im Aktionsplan Güterverkehr und Logistik der Bundesregierung findet:
„Innovative Logistikkonzepte unter Einbindung von Lastenfahrrädern bieten neue Ansätze für Transportaufgaben im städtischen Verkehr.“
Im nächsten Unterkapitel Fahrradwirtschaft wird dazu folgendes Ziel formuliert:
„5 % der Liefervorgänge der City-Logistik in Großstädten werden bis 2020 mit Fahrrädern/Lastenrädern abgewickelt.“
Da stellt sich zwar die Frage, was genau „Liefervorgänge der City-Logistik“ sind und welchen Anteil Fahrräder daran bereits heute haben – man denke an die Postzustelllung und Pizzalieferdienste. Auch würde man sich eine etwas zusammenhängendere Darstellung des Themas urbane Logistik mit Cargobikes wünschen. Doch wichtig ist, dass hier erstmalig eine politische Zielvorgabe für den Radverkehrsanteil im urbanen Lieferverkehr formuliert ist. Das stärkt jungen Radlogistik-Unternehmen wie Velocarrier aus Tübingen den Rücken und hoffentlich folgt aus einer IHK-Studie für Stuttgart jetzt bald auch ein Modellprojekt.
Ran an die Forschungsförderung!
Die nächste interessante Erwähnung von Cargobikes folgt im Unterkapitel „Fahrradwirtschaft“. Die „Diversifizierung des Angebots über das klassische Fahrrad hinaus“ unter anderem in Form von Cargobikes sei eine „zentrale Herausforderung der Fahrradbranche der Zukunft“. In der Maßnahmentabelle wird entsprechend Förderung in Aussicht gestellt für die „Diversifizierung der Fahrzeugflotte, um Angebote im Bereich zwischen klassischem Fahrradmarkt und Pkw-Markt zu schaffen“. Hiervon können hoffentlich die Cargobike-Hersteller in Baden-Württemberg profitieren und spannende neue Räder entwickeln – ob mit oder ohne E-Antrieb.
Kritischer Punkt: Cargobikes fast ausschließlich unter Elektromobilität
In den anderen sieben Handlungsfeldern der Radstrategie und im einleitenden Kapitel „Zukunftsthema Radverkehr“ kommt das Cargobike – mit drei kleinen aber feinen Ausnahmen – leider nicht vor. Die weitestgehende Unterordnung der Cargobikes unter das Thema Elektromobilität im Handlungsfeld „Elektromobilität, Forschung und Innovation, Fahrradwirtschaft“ wird den Cargobikes und ihrem Potential für die Radverkehrsförderung jedoch nicht gerecht. Zwar macht ein E-Antrieb bei Cargobikes ganz besonders Sinn und er hat unbestritten einen wichtigen Anteil an der aktuellen Renaissance von Cargobikes. Aber es wird auch weiterhin einen ganz erheblichen Anteil an Cargobikes ohne E-Antrieb geben. Denn nicht jeder kann oder will sich einen zusätzlichen E-Antrieb leisten. Und wer keine Berge oder lange Strecken fährt und körperlich fit ist, für den lohnt ein E-Antrieb oft nicht.
Die drei Ausnahmen, in denen Cargobikes auch in anderen sieben Handlungsfeldern der Radstrategie vorkommen ist einmal im Handlungsfeld „Infrastruktur“ die Feststellung, dass Stellplätze für größere Fahrradtypen und Anhänger an Bedeutung gewinnen. Im Handlungsfeld „Strukturen und Rahmenbedingungen“ kündigt das Land Maßnahmen zur fahrradfreundlichen Weiterentwicklung des Verkehrsrechts auf Bundesebene an – darunter zur „Aktualisierung fahrradtechnischer Regelungen im Hinblick z. B.auf Pedelecs, Lastenfahrräder oder die Fahrradbeleuchtung“.
Integration in Fahrradverleihsysteme
Schließlich heißt es im Handlungsfeld „Verknüpfung mit anderen Verkehrsmitteln“ unter den Maßnahmen:
„Zunehmend werden auch Pedelecs und Lastenräder in Verleihsysteme integriert. Dabei wäre die Integration in einheitliche multimodale Mobilitätsplattformen anzustreben.“
Erste Erfahrungen und Planungen gibt es dazu bereits anderswo. In der Wiener Seestadt Aspern startete im Herbst 2015 ein vollautomatisiertes Pedelec-Verleihsystem mit vier integrierten Cargobikes. In Hamburg hat im April 2015 der rot-grüne Koalitionsvertrag zur Neuvergabe des Fahrradverleihsystems Stadtrad (fällig im Jahr 2019) angekündigt: „Sowohl Pedelecs als auch Lastenräder oder solche mit Kindersitz sollen im Portfolio des zukünftigen Anbieters enthalten sein.“ Das vom Bundesverkehrsministerium geförderte Projekt TINK wird bereits ab Mitte 2016 in Konstanz und Norderstedt Verleihsysteme mit jeweils 30 Cargobikes testen. Eine erfolgreiche Integration von Cargobikes in ein Fahrradverleihsysteme einer Großstadt, als vom Land Baden-Württemberg gefördertes Modellprojekt – das könnte ein wirklicher Game Changer für die Verfügbarkeit und Weiterverbreitung von Cargobikes nicht nur in Baden-Württemberg sein. Vielleicht in Mannheim, wo im Jahr 2017 der 200. Geburtstag des Fahrrads groß gefeiert wird?
Alles in allem einen großen Glückwunsch nach Baden-Württemberg für die ambitionierte Radstrategie und die Pläne zur Förderung von Cargobikes! Jetzt kommt es auf die Umsetzung an. Wenn ich dazu noch einen Wunsch äußern darf: Bei der geplanten landesweiten Verbesserung und Vereinheitlichung der Fahrradmitnahme in Nahverkehrszügen den oft leider üblichen Ausschluss von Cargobikes, Tandems oder Liegerädern abschaffen. NRW hat es hat es bereits vorgemacht – dort ist die Fahrradmitnahme nur noch vom vorhandenen Platz und nicht mehr vom Fahrradtyp abhängig. Aber ich gebe zu, das ist nicht das drängendste Problem in Baden-Württemberg. Am 13. März sind erst Mal Landtagswahlen …
Anhang
Die Erwähnungen von Cargobikes in der Maßnahmen-Tabelle der Radstrategie:
- Aufbau von Fahrradverleihsystemen als Angebotsbestandteile des ÖV in allen großen Ballungsräumen. Integration in den ÖV-Tarif. Verstärkte Integration von Pedelecs und Lastenrädern.
- Die Landesregierung schafft einen Pool von Lastenrädern, auch E-Lastenräder an. Damit werden Postwege zwischen den Ministerien (Transport von Akten, Post etc.) mit dem Fahrrad zurückgelegt
- Strategiepapier zu den Möglichkeiten der Förderung der Elektromobilität im Bereich Radverkehr unter Einbeziehung von Lastenrädern und Fahrradverleihsystemen mit einer Differenzierung zwischen Wirtschaft-, Alltags- und Freizeitnutzung
- Schaffung einer flächendeckenden Pedelec- und Lastenfahrrad-tauglichen Infrastruktur (Radverkehrsinfrastruktur und Abstellanlagen) sowie von Akku-Lademöglichkeiten
- Land und Kommunen steigern die Nutzung von Pedelecs und Lastenräder bei Dienstfahrten durch Bereitstellung entsprechender Fahrzeuge für Beschäftigte in Verwaltungen,
kommunalen Betrieben, Kindertagesstätten und Schulen. […] - Förderung der Verbreitung von Pedelecs und Lastenrädern im Wirtschaftsverkehr beispielsweise durch Wettbewerbe und/oder Bereitstellung und Verbreitung von Informationen (Broschüre, Internet) zu Fahrzeugkonzepten und Fahrradleasingmöglichkeiten. Hierbei sind gegebenenfalls branchenspezifische Ansprachen sinnvoll.
- lokale Organisationen, Kommunen und Wohnungsbaugesellschaften erhalten Lasten-Pedelecs, wenn sie geeignete Konzepte vorweisen, um diese einer möglichst breiten Nutzerschicht zugänglich zu machen.
- Umsetzung von Forschungsvorhaben mit den Zielen Verkehrssicherheit, Innovation und Wettbewerbsfähigkeit der Fahrradwirtschaft und Aktivierung von Nutzerpotenziale bspw. zu:
– Nutzer,
z. B. Nutzerverhalten, Motivationen, Bedürfnisse RadfahrerInnen, Potenziale und Einsatzmöglichkeiten Lastenräder,Gesundheit, Gesellschaftliche Teilhabe. Erfassung auch unter
Nutzung neuer technischer Möglichkeiten zur Nutzungserfassung (Smartphones)
[…]
– technische Weiterentwicklungen Fahrrad,
z. B. Gewichtsreduzierung, Beleuchtung und Bremssysteme (ABS), neue Batterietechnik und GPS-Orientierung) zur Erhöhung des Komfort- und Sicherheitspotenzials und Erweiterung der Angebotspalette (altersangepasste Räder, Mehrpersonenräder, Anhänger mit E-Motor, Lastenräder, o. ä.), Diebstahlschutz,
[…] - 5 % der Liefervorgänge der City-Logistik in Großstädten werden bis 2020 mit Fahrrädern/ Lastenrädern abgewickelt