In der Schweiz wird das landesweite Cargobike Sharing-Angebot carvelo2go diesen Sommer das 300. eCargobike in Betrieb nehmen. cargobike.jetzt sprach mit Projektleiter Jonas Schmid von der Mobilitätsakademie in Bern über das Erfolgsrezept von carvelo2go und Pläne für die Zukunft.
Vorab: Bereits im Oktober 2015 war cargobike.jetzt kurz nach dem Start von carvelo2go bei der Mobilitätsakademie in Bern zu Besuch. Mehr dazu in der Reportage Im Land der Lastenvelos, Teil II: carvelo in Bern. Seitdem hat sich viel getan bei carvelo2go! Und Cargobike Sharing unterschiedlicher Anbieter gibt es auch in über 60 deutschen Städten.
Interview mit Jonas Schmid – Projektleiter von carvelo2go
cargobike.jetzt: Wieso ist gerade in der bergigen Schweiz und unter dem Dach eines Automobilclubs das größte Cargobike Sharing-System Europas entstanden?
Jonas Schmid: Du meinst das größte System der Welt! Das sind keine Widersprüche, im Gegenteil. Als Mobilitätsakademie des Touring Club Schweiz interessieren wir uns seit unserer Gründung im Jahr 2008 für die wichtigen Entwicklungen im Verkehrssektor. Die steigende Bedeutung der Ökonomie des Teilens ist für uns ein zentraler Mobilitätstrend.
Eine weitere wichtige Entwicklung erkennen wir in der Renaissance des Velos im urbanen Verkehr. Hier spielt die Elektrifizierung eine ganz zentrale Rolle, womit topographische Gegebenheiten immer weniger ein Thema sind!
Neben unserer Kompetenz im Mobilitätsbereich war unsere persönliche Passion für Cargo-Bikes und die großzügige Unterstützung des Förderfonds Engagement Migros der Nährboden für carvelo2go. Dass wir den TCS als größten Schweizer Mobilitätsclub mit dem Lastenradvirus anstecken konnten, ist für uns ein großer Gewinn. Sein Engagement verleiht uns einen gewaltigen Schub und erzeugt Wirkung in Kreisen, die wir sonst nicht erreichen.
cargobike.jetzt: Ihr arbeitet bewusst mit persönlicher Ausgabe der eCargobike („Carvelos“) an festen Hoststationen. Wieso kein automatisiertes Freefloating oder Ausgabe- und Aufladestationen im öffentlichen Raum? Was macht eine erfolgreiche Hoststation aus?
Jonas Schmid: Bei der Entwicklung von carvelo2go kamen wir sehr schnell auf das Host-Konzept, das wir von den freien Lastenrädern her kannten und uns prädestiniert dafür schien, ohne lange Entwicklungsphase und große Investitionen „gesharte“ Cargo-Bikes auf die Straße zu bringen. Seither haben wir diesen Ansatz konsequent weiterentwickelt, weil er sich extrem bewährt hat. Gepaart mit einem vollständig digitalisierten Buchungs- und Bezahlsystem ist das Host-Konzept unschlagbar: Die Hosts werden zu regelrechten Botschaftern des Angebots und stellen die Verankerung im Quartier sicher, sie kümmern sich um das Akkumanagement und halten so unsere Betriebskosten vergleichsweise tief.
Wir sehen beim Cargobike-Sharing viel mehr Verwandtschaft mit dem stationsbasierten Carsharing als mit dem modernen Bikesharing und den aufkommenden Freefloating-Modellen. Unsere Nutzer wollen das Carvelo vorgängig reservieren und haben keine Probleme damit, es wieder zum selben Ort zurückzubringen. Es handelt sich meist um eine in sich geschlossene Nutzung, die man von zu Hause aus tätigt und sowieso wieder dahin zurückkehrt.
Was einen erfolgreiche Host ausmacht, haben wir nach 4 Jahren tatsächlich herausgefunden: Gute Öffnungszeiten, viele Kunden/Besucher und eine ganz grosse Portion persönliches Engagement! Das kann zum Beispiel das hippe Quartiercafé, die herzliche Apothekerin oder die engagierte kommunale Bibliothek sein!
cargobike.jetzt: Wie entwickeln sich die Nutzerzahlen seit September 2015 und was wisst Ihr insgesamt über Eure Nutzerinnen und Nutzer?
Jonas Schmid: Unsere Nutzerzahl hat sich seit 2015 jedes Jahr verdoppelt. Mittlerweile sind wir bei knapp 15.000 angelangt. Wie du ja weißt, haben wir in dieser Zeit das Angebot in mehr als 70 Schweizer Städten und Gemeinden lanciert. In den sehr urbanen Räumen ist der/die klassische carvelo2go-Nutzer/in eine gut ausgebildete Person und lebt in einem autofreien Haushalt mit Kindern.
Außerhalb der großen Agglomerationen sehen die Profile ein wenig anders aus: Hier finden wir unter den Nutzerinnen und Nutzern mehr Leute mit eigenem Auto, welche die Carvelos vor allem für Freizeitzwecke nutzen. Grundsätzlich ist es natürlich schon so, dass die Auslastung in den großen Städten bedeutend besser ist. In kleinen Städten und Gemeinden ist das Angebot noch kein Selbstläufer und braucht einen längeren Atem.
cargobike.jetzt: Wie trägt sich carvelo2go ökonomisch?
Jonas Schmid: Aktuell können wir uns auf die folgenden vier Einkommensquellen stützen: Nutzungsentgelte, Sponsoring von Carvelos, Beiträge der Städte und eine Unterstützung des Förderfonds Engagement Migros. Mit diesen Mitteln decken wir den gesamten Betrieb und alle Investitionen. Wir sind zuversichtlich, dass wir auch langfristig eine solide Finanzierung von carvelo2go sicherstellen können.
Eine Herausforderung ist dabei die auslaufende Unterstützung von Engagement Migros Ende 2019. Wir werden dies jedoch durch eine noch bessere Auslastung der Räder, die weitere Skalierung und neue Partnerschaften und Produkte wettmachen können!
cargobike.jetzt: Welche Erfahrungen habt Ihr bisher mit den eingesetzten eCargobikes gemacht und welche Herausforderungen gibt es beim landesweiten Service?
Jonas Schmid: Wir haben im Betrieb verschiedene eCargo-Bikes getestet, bevor wir uns auf das Packster 60 von Riese & Müller fokussiert haben. Jedes Modell hat seine Vor- und Nachteile und seine Fangruppe! Relativ schnell wurde jedoch klar, dass die Nutzerinnen und Nutzer im städtischen Verkehr mit einspurigen Bikes viel besser zurechtkamen als mit mehrspurigen Rädern.
An den Cargo-Bikes von Riese & Müller gefiel uns speziell, dass sie sowohl unseren hohen Ansprüchen an die Qualität genügten, als auch wartungsarmer waren als die anderen Modelle. Für uns ist ganz zentral, dass die Nutzerinnen und Nutzer die Carvelos in einem möglichst guten Zustand antreffen und wir investieren entsprechend viel in das Flottenmanagement und die Wartung.
Die große Herausforderung dabei ist, dass wir nicht über einen zentralen Wartungsdienst verfügen, sondern das Flottenmanagement mit über 30 lokalen Riese & Müller-Händlern und weiteren Partnern sicherstellen. Vandalismus und Diebstahl waren bisher glücklicherweise kaum ein Thema. Es ist klar, dass hierfür die Betreuung durch die Hosts eine sehr positive Rolle spielt. Bei einigen Hosts werden die Räder über Nacht sogar reingestellt.
cargobike.jetzt: Ihr habt verkündet, carvelo2go bis 2020 auf landesweit 500 eCargobikes auszubauen. Welche Zukunftspläne habt Ihr über 2020 hinaus? Wollt Ihr auch in anderen Ländern aktiv werden? Zum Beispiel mit dem ADAC oder anderen Partnern in Deutschland?
Jonas Schmid: Interessante Frage! Unser Fokus liegt zurzeit ganz klar auf der Etablierung von eCargo-Bike Sharing in der Schweiz und der Weiterentwicklung der Kooperationen mit der hiesigen Verkehrswelt. So sind wir beispielsweise daran, die Integration von carvelo2go in Mobilitätsplattformen der großen Verkehrsakteure voranzutreiben. Es ist nicht geplant, dass wir selbst mit carvelo2go ins Ausland gehen. Wir könnten uns jedoch sehr wohl vorstellen, die Plattform und unser Knowhow anderen Betreibern zur Verfügung zu stellen, um dem Cargo-Bike Sharing international noch mehr Schub zu verleihen!
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Zur Person:
Jonas Schmid ist studierter Geograf und war im Stadtplanungsamt der Stadt Biel/Bienne zuständig für die Entwicklung des Bikesharing-Angebots velospot. Als Geschäftsführer der Firma Intermobility brachte er velospot in weitere Schweizer Städte. Seit 2015 ist Jonas Projektleiter bei der Mobilitätsakademie in Bern, einer Tochterfirma des Touring Club Schweiz (TCS). Dort ist er zuständig für die Umsetzung der Schweizer Lastenrad-Initiative carvelo und den Betrieb von carvelo2go. Jonas hat zwei 3-jährige Kinder, mit denen er regelmäßig auf seinem eCargobike unterwegs ist.