Gastbeitrag: Fahrradprüfer Dirk Zedler über den Cargobike-Boom, besondere Sorgfaltspflicht beim Kindertransport und reißerische Crashtests von ADAC und co.
Fahrspaß und Sicherheit bei Cargobikes müssen Hand in Hand gehen. cargobike.jetzt hat deswegen über den entstehenden EN-Standard für Lastenräder berichtet, über die Broschüre der Bundesanstalt für Straßenwesen für sicheren Kindertransport und das skandalöse ADAC-Crashtest-Video. Hier folgt ein Gastbeitrag von Dirk Zedler, einem der prominentesten Fahrradprüfer Deutschlands.
Dirk Zedler ist vereidigter Fahrrad-Sachverständiger und Gründer des Zedler-Institut für Fahrradtechnik und -Sicherheit. Zahlreiche Lastenräder gehen durch sein Prüflabor in Ludwigsburg. Wir dokumentieren Dirk Zedlers Beitrag, der im Juli 2022 auf Englisch in der Eurobike Daily Show erschien. Er basiert auf einem Vortrag, den Dirk Zedler 2020 auf der von cargobike.jetzt organisierten Cargobike Academy auf der Eurobike gehalten hat (Video).
Viel Spaß beim Lesen und immer dran denken: Fahrspaß und Sicherheit gehören zusammen!
Cargobikes – eine Erfolgsgeschichte ohne Schattenseiten?
Gastbeitrag von Dirk Zedler
Die Zahl der verkauften und auch auf öffentlichen Straßen gefahrenen Lastenräder steigt rasant. Welche Erkenntnisse alle Händler und Hersteller aus den ersten Rückrufen und weiteren Prüfungen von Autozeitschriften und Automobil-Clubs gewinnen können.
Es ist im Straßenbild nicht mehr zu übersehen: Die Nachfrage nach Lastenrädern ist in den vergangenen Jahren stark gestiegen. Waren es beispielsweise nach den Angaben des Zweirad-Industrie-Verband e.V. (ZIV) in Deutschland im Jahr 2018 rund 60.000 (39.200 mit „E“ und 20.900 ohne „E“), stieg die Zahl in 2020 um 72 % auf 103.200 (78.000 mit „E“ und 25.200 ohne „E“), um im vergangenen Jahr nochmals um 62 % auf 167.000 (120.000 mit „E“ und 47.000 ohne „E“) zuzulegen.
Dabei zeigt das Straßenbild, dass das Genre immer bunter wird. Neben den schon als klassisch zu bezeichnenden Modellen mit zwei Rädern und einer Ladefläche vor dem Fahrer, gibt es zunehmend neue und interessante Varianten. Zwei Räder vorne und eins hinten oder umgekehrt, mit und ohne Neigetechnik, vierrädrige Varianten mit Ladefläche oder Cargoboxen-Systemen, der Fantasie sind derzeit keine Grenzen gesetzt.
Der Begriff Lastenrad trifft es schon lange nicht mehr, denn im privaten Bereich werden nach unserer Beobachtung überwiegend Kinder befördert. Beim Transport von Kindern, als per Definition einer der schützenswertesten Gruppen der Bevölkerung, haben alle dabei involvierten Parteien, von der Konstruktion, über den Vertrieb bis hin zum Kunden, besondere Sorgfaltspflicht. Da mutet es geradezu verwegen an, dass die mit am meisten verkauften Modelle mit schwachen (Trommel-)Bremsen und Holzkisten zum Kindertransport daherkommen. Und solche Hersteller werben mithin um Kundschaft mit mehreren Kindern in der Box, die unangeschnallt weit über die Ladebordwand hinaushängen und deren Hände in die Speichen der Räder zu gelangen drohen.
Gerade diese Modelle erzürnen viele Akteure der Automobilbranche und daher macht diese immer wieder gegen die aufstrebende Fahrradgattung Front. Aus deren Sicht unternehmen sie bei ihren eigenen Produkten erhebliche Anstrengungen, um Kinder bei Unfällen zu schützen und im Umkehrschluss gefährdet die Fahrradbranche geradezu fahrlässig die Kleinen. Was die Autolobbyisten dabei gänzlich außer Acht lassen ist, dass die eigentliche Gefahr für Kinder auf der Straße nicht vom Fahrrad, sondern von den Kraftfahrzeugen ausgeht.
Statistisch betrachtet sind die Unfälle glücklicherweise noch vernachlässigbar. Dennoch ist jede schwere Unfallfolge eine zu viel und reißerische Crashtests, wie sie beispielsweise von DEKRA und ADAC durchgeführt wurden, schaden dem Image der Transporträder erheblich. Als Fahrradhersteller in der Konstruktion, aber auch als Berater gegenüber dem Kunden sollten wir die Erkenntnisse nutzen und zunehmend auf aktive Eigenschaften wie helles Tagfahrlicht, starke (Scheiben-)Bremsen und passive Sicherheitseinrichtungen, wie solide Sitzbänke mit mindestens 3- besser 5-Punkt-Gurten und Kopfstützen hinarbeiten und beraten. Wenn wir als Branche ehrlich zu uns selbst sind, sind Kindersitze und Kinderanhänger in passiver Sicherheit schon seit vielen Jahren deutlich weiter.
Transportbike-Standard DIN 79010
Vom internationalen Standpunkt aus gesehen existiert aktuell keine EN- oder ISO-Norm, auf die man die Sicherheit eines Transportrades abstellen könnte. Was es gibt, ist die in Deutschland erarbeitete DIN 79010:2020-02. Diese stellt Anforderungen an die Betriebsfestigkeit und verweist, was den Transport von Passagieren angeht, auf die Norm DIN 15918 für Kinderanhänger. Lesen und, noch besser, umsetzen lohnt – versprochen!
Wie bei den anderen Fahrrad- und E-Bike-Kategorien auch, bietet die Norm ein Mindestmaß an Sicherheit und Gebrauchstauglichkeit. Mehr aber leider nicht.
Gerade die diversifizierten Modelle können und sind daher nicht ausreichend abgebildet. Ein starkes Wachstumsfeld sind beispielsweise solche Modelle, die vorne ein normales Fahrrad und hinten verlängert konstruiert sind – sogenannte Long Tails. An den großzügigen Gepäckträgern können geräumige Packtaschen eingehängt werden, auf der Sitzbank können ein oder zwei Kinder mitgenommen werden oder man transportiert von jedem etwas.
Fahrräder, die vorne kurz und hinten lang sind, fahren sich zumindest unbeladen deutlich näher am „normalen“ Fahrrad und nehmen weniger Parkfläche ein, im Vergleich zu den weit verbreiteten Transporträdern mit Ladefläche vorn, oft Long John genannt. Dennoch sind diese nicht ohne Tücken.
Versagen in der Nutzung, trotz erfolgreicher DIN 79010-Tests
Ein Bruch des zentralen Rohres während der Fahrt, bei der Mutter und Kind zu Boden gehen, ist eine schlimme Vorstellung – die leider Realität wurde.
Einige der im Feld, d.h. in der Benutzung, aufgetretenen Schadenfälle erlitten Transporträder, die seitens der Hersteller mit den Anforderungen der DIN 79010 erfolgreich geprüft wurden.
Auf der Suche nach den Ursachen, fanden unsere Sachverständigen im Fahrbetrieb auftretende, schädigende Belastungen, die von den Norm-Prüfungen nicht reproduziert werden. Im Ergebnis konnten wir nur mit eigens für solche Lastenräder entwickelten Prüfsystemen, die aufgetretenen Feldversagen reproduzieren.
4 dynamische Prüfungen sieht die Norm bei einem einspurigen Lastenrad für den Rahmen vor. Unserem Erfahrungsschatz nach, können wir die bis dato bekannten Schadenmechanismen bei Long Tails nur dann verlässlich ausschließen, wenn wir 42 Prüfungen in 11 verschiedenen Lastarten durchführen.
Im Ergebnis ist der Beweis bereits jetzt angetreten, dass die Vielfalt der Transporträder nebst den vorhandenen, brillanten Entwicklern ebenso engagierte Prüfer erfordert, die in Ergänzung zu den Normanforderungen weitere Lastarten, d.h. Prüfszenarien, hinzuaddieren und die aus der Norm bekannten Lastarten auf die speziellen Bedürfnisse jeder Transportrad-Kategorie bzw. Machart anpassen. Oder anders gesagt: Long John und Long Tail können prüftechnisch nicht über einen Kamm geschoren werden – sonst kann es zum Versagen kommen.
Freuen wir uns, dass die Fahrradwelt tagtäglich bunter wird. Seien wir aber wachsam und professionell, um nur Transporträder in den Verkehr zu bringen, wenn diese in allen Belangen sicher sind. So bieten wir der Autolobby weniger Angriffspunkte, um Transporträder schlechter aussehen zu lassen, als sie es tatsächlich sind. Händler sind gut beraten, wenn Sie beim Einkauf nachfragen, ob und wie die Lastenräder geprüft wurden.
Erstveröffentlichung auf Deutsch hier im Newsletter 09/2022 des Zedler-Institut.