Viele reden von der Verkehrswende. Familie Nippgen aus Aachen hat es getan: Das eigene Auto abgeschafft. Anfangs noch mit Skepsis. Jetzt werden sie Cargobike-Händler.
Ich habe Sebastian, Katharina und Marjolein Nippgen zufällig im Juni beim Cargobike-Händler „Schicke Mütze“ in Düsseldorf kennengelernt. Sie waren aus Aachen mit Regionalbahn und eCargobike angereist. Ihr Urban Arrow hatte knapp über 10 000 Kilometer auf dem Tacho – 14 Monate nach dem Kauf.
Jetzt hat Sebastian Nippgen aufgeschrieben wie es dazu kam. Eine schöne Familiengeschichte über die Befreiung vom Auto und die Lust am Cargobike. Der Beitrag erschien zuerst auf dem privaten Blog der Familie. Viel Spaß beim Lesen und zur Nachahmung empfohlen! Es müssen auch nicht alle im Anschluss Cargobike-Händler werden. Aber wen es interessiert: Madame Cargo ist das entstehende Cargobike-Geschäft von Katahrina und Sebastian Nippgens.
Der Beginn mit der Lust zur Last
Gastbeitrag von Sebastian Nippgen
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Der Beginn unserer Leidenschaft entstand weder aus dem Bedürfnis die Welt zu retten, noch aus einem Fitnessgedanken. Stets stand das Auto im Fokus. Wie konnten wir es finanzieren, wie könnten wir ohne es leben und wo stellen wir es als nächstes hin. Alles war an das Auto gekoppelt. Reparaturen, Sprit, Steuer, Versicherung und Zeit für die Parkplatzsuche. Dann führte uns unser Leben in unsere eigene Familie.
Wie hätten wir als Familie mit Kind in Deutschland an ein Leben ohne Auto denken können? Also luden wir Tag für Tag unser Hab und Gut Trepp auf Trepp ab, ins und aus dem Auto. Keine Runde um den Block war zu weit, um nicht doch die Parklücke vor der Tür zu ergattern, um dann in 5 Schritten am Auto zu sein statt in 20. Wir folgten dem guten Vorbild der autodenkenden Gesellschaft. Doch fehlte nicht das Gefühl von Freiheit, während wir an zu kurzen Ampelphasen unser Dasein gefangen im Blech auf grauem Asphalt fristeten? Wir hatten unsere Musik dabei und die Möglichkeit, uns über andere aufzuregen und redeten uns das Rollen auf überfüllten Straßen damit schöner als es war. Wir stimmten ein in den Chor zur Raumangst ums Auto und summten ihre Symphonien der Klage auf der Suche nach einem Stück versiegeltem Boden der unserem Auto einen rechtmäßigen Platz bot.
Unsere finanziell desolate Lage missachteten wir und das Auto wurde sogar größer und dieselte mit roter Plakette vor sich hin. Klar mussten wir größer denken, immerhin waren wir eine Familie und für Kinder muss immer der halbe Hausrat mitgeschleppt werden. Zu dieser Zeit wehrte sich unsere Stadt noch erfolgreich gegen die Umweltzone und wir uns gegen den Schritt gegen den Strom, das Auto einfach stehen zu lassen. Was sollten wir schon gegen die anderen machen und wieso sollten mit fossilem Brennstoff betriebene Maschinen die Umwelt belasten?
Dennoch knabberte der Zahn der Zeit an unserem bequemen und lieb gewonnen Straßenkreuzer. Die Lichtmaschine zu wechseln war noch ein leichtes. Aber die undichte Hydraulik trennte uns dann endgültig, da Werkzeug, Motorkran und Erfahrung fehlten und sich aufgrund der drohenden Umweltzone eine Reparatur nicht mehr lohnte.
Mist. Was sollten wir machen? Unsere Tochter musste acht Kilometer weit weg zur Tagesmutter, meine Frau musste zur Arbeit und der 50 ccm Roller den wir noch besaßen war für diese Aufgabe nicht geeignet. Die schnellste Lösung bestand darin, dass sich meine Frau auf ihr altes Baumarktfahrrad schwang. Der im Vorfeld gekaufte schäbige Kindersitz genügte, um unsere Tochter zur Tagesmutter zu bringen. Danach schleppte sich meine Frau auf dem bleiern wirkenden Rahmen mit Dauerbremse zur Arbeit und fuhr untrainiert täglich ihre 30 Kilometer. Was für ein Wunder das sie das durchhielt.
Zu meinem „Glück“ lag meine Arbeit im entgegengesetzten Teil der Stadt, so dass ich beruhigt die rationale Lösung des Rollers weiter verfolgen konnte. Dies konnte ich auch noch ein ganzes weiteres Jahr. Ich frönte somit weiter den Vorzügen der grauen Straßen und des Berufsverkehrs, welche im wesentlichen aus Stehen an Ampeln und langsamen dahinrollen bestanden.
Doch irgendwie mussten wir den Verlust der kaufrauschartigen Wocheneinkäufe entgegen wirken. Aber wie?
Unsere Familien überlegten mit was zu tun sei. Schnell waren diese sich einig, es müsse wieder ein Auto her. Es könnte ja auch ein Kleinwagen sein, dieser wäre ja auch im Unterhalt nicht so teuer. Aber ohne Auto kann keine Familie existieren, vor allem nicht bei den Entfernungen, welche wir zurück legen müssen. Sogar Angebote ein Auto zu finanzieren bestanden von unseren Familien.
Hätten wir nun auf unserer Familien gehört, dann wäre diese Geschichte hier vorbei, der Titel völlig fehl am Platz und es gäbe auch nichts zu erzählen. Aber meine Frau hatte eine verrückte Idee, die von keiner Seite Unterstützung fand. Sie wurde auf Lastenräder – oder wie sie im niederländischen charmanter klingen: „Bakfietsen“ – aufmerksam.
Nicht, dass ich überzeugt gewesen wäre, aber ich konnte ja noch weiter Roller fahren und ließ meine Frau gewähren. Hätte ich damals schon gewusst, dass es erstens total sinnvoll ist, in einer Stadt nicht mit dem Auto unterwegs zu sein, sondern mit einem Fahrrad und hätten wir zweitens damals schon gewusst, dass unser erstes Lastenrad vom Material und von der Verarbeitung unterste Schiene war, hätten wie uns auch hier sehr wahrscheinlich viel Geld sparen können. Aber Erstens gab es keine zusätzliche Finanzierung der Familien zu einem Fahrrad, es sollte ja ein Auto sein. Und zweitens musste an einer Ecke gespart werden bei einer Idee, die erst noch unsicher schien.
Aber gut, unsere Leidenschaft hatte ihren Beginn in einem Lastendreirad gefunden, und so bewältigten wir unsere ersten Touren zu Freunden (19 Kilometer eine Fahrt) oder anderen ähnlich weit entfernten Zielen. Während meine Frau durch das Radeln langsam an Fitness gewann und ein wenig Unterstützung durch ihren Elektromotor bekam, keuchte ich auf dem Benzinroller hinter meiner Frau her und suchte immer Möglichkeiten für die nächste Pause. Entweder rutschte die Hose, die Gangschaltung ging nicht richtig, ich musste Pippi und all die anderen Ideen, die ich hatte um mich gegen ein Fahren mit dem Rad zu wehren kamen zu Tage. Auch mein Bauch schien mir das Treten schwer zu gestalten.
Aber irgendwie freute ich mich auch auf die Tage, an denen ich statt meiner Frau unsere Tochter zur Tagesmutter fahren oder von Ihr abholen sollte. Entweder trafen wir uns auf der Arbeit meiner Frau und tauschten die Gefährte, oder ich fuhr noch einmal zu Hause vorbei und wechselte dann wieder auf Benzin. Aber die 16 Kilometer morgens taten gut. Sie taten verdammt gut. Gleichsam schreitend ging ich die Flure auf der Arbeit entlang und fühlte eine ungewohnt gute Kraft in den Beinen, nachdem die ersten Muskelschmerzen überwunden waren. Ich war innerlich stolz schon 16 Kilometer am Morgen gefahren zu sein und wusste, dass meine Beine schon etwas geleistet hatten, auch wenn es dank dem Motor nicht ganz so anstrengend war.
Aber wie schon erwähnt, stellte sich unser erstes Bakfiets als verarbeitungstechnisches Desaster heraus. Der optische Charme wich sehr bald dem unverkennbar schlecht verarbeiteten Speichen und Achsen. Nach einem halben Jahr und einer sehr steilen Lernkurve wusste ich dann wie man ein Rad einspeicht und hatte 18 der 36 Hinterradspeichen sowie eine Vorderachse am Bakfiets ausgetauscht. Auch unsere Fitness führte dazu, dass das Fahrgefühl auf dem Lastendreirad immer schlechter wurde. Ab größeren Geschwindigkeiten (bei unserem Modell schon ab 20 km/h) fahren sich Dreiräder dieser Bauart wie Backsteine und neigen in Kurven zum Kippen.
Ein neues, vernünftiges Rad musste her. In diesem Fall eine einspurige (Long John) Variante. Aufgrund unserer Erfahrung mieden wir den Hersteller unseres ersten Desasters. Zu dieser Zeit ereignete sich auch der Schaden im Antrieb unseres Rollers und das Material zur Reparatur vom Markenhändler wurde erst nach einigem hin und her nach vier Monaten aufgetrieben.
In dieser Zeit hatte ich dann meine Tochter schon diverse Male weg gebracht und bin dann zur Arbeit gefahren, so dass ich zu mindestens mit Motor locker eine Tagesstrecke von 50 Kilometer schaffen konnte. Mit meinem normalen Rad stellte sich das anfänglich noch ein wenig schwieriger dar, aber da der Roller ja nicht funktionierte hatte ich sehr viel Training. Das Material um den Roller zu reparieren liegt derzeit noch bei uns im Regal und der Roller steht als Blumenständer im Garten. Auch ein Auto könnten wir uns wieder leisten, aber die Notwendigkeit sehen wir derzeit nicht.
Wir haben mitbekommen, dass ein Fahrrad in der Stadt viel Ärger bei der Parkplatzsuche erspart und wir ohne Fitnessstudio etwas für unsere Gesundheit tun. Wir sehen, dass wir die Umwelt schonen und merken auf den Wegen, dass die Welt auch grün sein kann und nicht nur aus geteerten Straßen mit roten, gelben und grünen Lichtern besteht. Wir haben erkannt, dass wir für uns derzeit ohne Auto leben können und es so lange machen wollen wie wir es machen können. Wir kaufen mit unserem Lastenrad im 30 Kilometer entfernten IKEA zwei Regale und Zubehör ein und lieben es, wenn uns Leute deshalb für verrückt erklären. Wir haben nichts gegen das Auto generell, aber wir sehen, dass wir es geschafft haben uns umzustellen. Nicht für alles braucht man ein Auto und nicht jeder muss eins besitzen. Würden wir uns alle auf die nötigsten Fahrten mit dem Auto beschränken, hätten wir eine Menge an Platz und Grün in den Städten zurück gewonnen.
Ich freue mich, dass meine Tochter schon mit Drei radelt und noch mehr freue ich mich wenn uns unsere Tochter ihr Bild von einem Fahrrad malt: mit einer Dicken Kiste vorne und einem Kind das darin sitzt.
Mittlerweile haben wir uns dazu entschieden, einen eigenen Laden aufzubauen, um Cargobikes (Douze Cycles) zu verkaufen. Schaut mal auf Madame Cargo vorbei. Aktuell läuft dies noch nebenher und ohne Ladenlokal, aber wir arbeiten daran, mal ein eigenes Ladenlokal führen zu können.
Der Beitrag erschien am 29. Oktober 2017 auf dem privaten Blog der Familie Nippgen. Diese Fassung auf cargobike.jetzt enthält zusätzliche Bilder (siehe Slider am Anfang) und ist leicht redigiert. Vielen Dank und weiterhin gute Fahrt nach Aachen!