Im Land der Lastenvelos, Teil II: carvelo in Bern

Mit dem Projekt carvelo bringt die Berner Mobilitätsakademie Schwung in die schweizer Cargobike-Welt. Für den 29. Oktober 2015 lud sie zum carvelo camp nach Bern.

Einen Monat vor der Konferenz ließ die Mobilitätsakademie noch einen Knaller aus dem Sack: „Weltneuheit! carvelo2go – Das erste eCargo-Bike-Sharing startet in Bern“ verkündete eine Pressemitteilung. Ein guter Zeitpunkt also für einen Besuch in Bern – zumal ich als Referent zum carvelo camp eingeladen war.

carvelo2go in Bern mit hochwertigen eCargobikes

Von Berlin aus fahre ich mit dem Nachtzug, der früh morgens in Basel ankommt. Ich nutze den Zwischenstopp in der Fahrradhautstadt der Schweiz für kurze Besuche bei wichtigen Baseler Cargobike-Akteuren und bewundere die autofreie Innenstadt. Mehr dazu in Teil I dieser Reportage.

Nachmittags in der Bundeshauptstadt Bern ist es ein kurzer Fußweg vom Hauptbahnhof in die Laupenstraße, wo sich die Mobilitätsakademie in einer Hinterhof-Remise befindet. Julia Zosso, Jonas Schmid und Alain Brügger vom carvelo-Team sind mit der Konferenzvorbereitung bereits fertig und erstaunlich relaxt.

Wir brechen direkt wieder auf, um das neue Sharing-Angebot carvelo2go (link) zu erkunden. Dazu schwingen wir uns auf ein Load von Riese & Müller, ein Babboe und ein „normales“ Fahrrad, um uns beim nächsten Host mit einem weiteren eCargobike zu versorgen: Im Berner GenerationenHaus am Bahnhof erhalten wir am Besucherempfang Akku und Schlüssel für einen im Hinterhof stehenden Urban Arrow – alles ganz easy, weil ordnungsgemäß im Voraus gebucht.

Autoclub unterstützt carvelo2go

Das carvelo Team mit Urban Arrow
Julia Zosso, Alain Brugger und Jonas Schmid mit „Ihrem“ TCS-Urban Arrow

Das GenerationenHaus war lange Zeit ein reines Altenheim und will sich jetzt als „Begegnungsort für Jung und Alt“ etablieren. Dabei soll ein Serviceangebot wie carvelo2go helfen. Auch andere erhoffen sich von carvelo2go einen Imagegewinn. Am Urban Arrow überrascht das gelbe Branding: „Übrigens: für Mitglieder kostenlos. TCS“. Das TCS steht für den Touring Club Schweiz, dem Schweizer Pendant des deutschen ADAC! Verkehrte Welt? Irgendwie schon. Aber irgendwie auch nicht. Denn die Mobilitätsakademie ist eine 100 prozentige Tochtergesellschaft des TCS, der sich als innovativer mobilitätspolitischer Akteur profilieren will. Dafür bietet das Sponsoring von carvelo2go und die kostenlose Nutzungsmöglichkeit für die Mitglieder eine interessante Chance. Wann der ADAC in Deutschland wohl auch auf solche Gedanken kommt?

Das carvelo Team auf dem Bahnhofsvorplatz in BernDank TCS haben wir jetzt jedenfalls ein viertes Rad und unsere Tour kann richtig losgehen. Wir fahren über die Lorrainebrücke und auf der anderen Aare-Seite lang und kräftig den Berg hoch. Hier wird schnell klar, warum bei carvelo2go nur eCargobikes zum Einsatz kommen. Ruckzuck sind wir am Breitenrainplatz beim nächsten carvelo2go-Host: der Kneipe Barbière.

Das Load der carvelo2go-Hoststation BarbièreAuf der Straße steht ein weiteres Load. Auf der Ladefläche sind zwei schwere Säcke mit Malzresten aus der kleinen hauseigenen Brauerei geladen. Als Host-Station kann das Barbière-Team das Rad jederzeit kostenlos nutzen wenn keine Buchungen vorliegen. Regelmäßig gelangen so zum Beispiel die Malzreste zu einem Bauern, der sie an seine Tiere verfüttert.

carvelo – wie alles anfing

Beim Feierabend-Bier erfahre ich Vorgeschichte und Hintergründe von carvelo2go. Im Juni 2015 ging carvelo (link) als „Schweizer Lastenrad-Initiative“ der Mobilitätsakademie offiziell an den Start. Unterstützt wird die Initiative über drei Jahre vom Förderfond Engagement Migros – eine Art Stiftung, die von der großen Schweizer Supermarktkette ins Leben gerufen wurde und unter anderem Projekte im Bereich Nachhaltigkeit fördert.

Bereits vor dem Start von carvelo hat sich der „Think- and Do-Tank“ Mobilitätsakademie mit Cargobikes beschäftigt. Im Projekt CaKi-Bike (Cargo- und Kinder-Bike) teilen sich jeweils drei Familien in Bern für drei Monate ein Cargobike. Über 200 Familien nahmen in 18 Monaten teil. Im Oktober 2014 lud die Mobilitätsakademie zu ihrer ersten Cargobike-Fachkonferenz, die damals CarVe.2014 statt carvelo camp hieß.

Direktor der Mobilitätsakademie ist Jörg Beckmann. Er ist gleichzeitig Vizedirektor des TSC und hat zuvor auch beim ökologisch orientierten Dachverband Transport & Environment in Brüssel gearbeitet. Neben Projekten zu eMobilität (Verband Swiss eMobility) und kollaborativer Mobilität (World Collaborative Mobility Congress) setzt er gezielt auf Cargobikes als Schwerpunkte für die Mobilitätsakademie. In seinen lesenswerten programmatischen „10 Thesen zur Zukunft der urbanen Mobilität“ handelt die siebte These ausschließlich vom eCargobike:

Das alte Velo ist zurück – als das neue Auto!
Das elektrisch angetriebene Lastenrad vereint in sich die positivsten Merkmale der drei klassischen Verkehrsträger – vom motorisierten Individualverkehr, über den schienen- und straßengebunden öffentlichen Verkehr bis hin zum Veloverkehr: Es erbringt Personen- und Warentransportleistungen, wie sie sich bislang am komfortabelsten nur mit dem MIV realisieren ließen – und das anders als beim ÖV auch von Tür zu Tür – ohne auf einen markierten Parkplatz angewiesen zu sein. Es ist überall einsetzbar, als „Human Powered Vehicle“ gesundheitsfördernd und energieeffizient und lässt sich zudem leicht mit anderen Verkehrsmitteln kombinieren. Aus der Sicht der Stadtverkehrsplanung und -politik ist es damit ein ideales Instrument zur Entlastung des innerstädtischen ÖV und zur Reduktion des klassischen motorisierten Individualverkehrs.

Um die AutonutzerInnen und nicht zuletzt auch die TCS-Mitglieder anzusprechen setzt das carvelo auf qualitativ hochwertige und komfortable eCargobikes. Sowohl bei CaKi als auch bei carvelo2go kommen nur Premium-Modelle zum Einsatz: neben dem Load von Riese & Müller und dem Urban Arrow auch das MK1-E von Butchers & Bicycles. Das zum niedrigeren Preissegment zählende Babboe ist eine temporäre Ausnahme im carvelo2go-Angebot, inzwischen ist es ersetzt worden.

Foto aus TCS.Magazin touring: Barbiere-Chefin auf Load von carvelo2go
TCS-Fotoshooting mit Barbière-Chefin auf einem LOad von carvelo2go Barbière-Chefin im Fotoshooting von allen Seiten.

Im Barbière sammelt sich derweil eine größere Runde an einem Nachbartisch. Ein vierköpfiges Team des TCS-Magazin touring ist eingetroffen und interviewt die Babière-Chefin. Ein Fotoshooting auf dem Load folgt, nachdem es vom Malztransport zurück ist. Text und Bild dazu erschienen in der touring-Ausgabe 11/2015 (Seite 39) unter der Überschrift „Cargo-Bikes erobern die Hauptstadt“.

Beim TCS ist man ein wenig stolz auf carvelo2go und weiß auf jeden Fall dessen Marketing-Potential zu nutzen. Selbstverständlich bleibt der TCS aber letztlich eine Autofahrer-Lobby. So steht er im großen schweizer verkehrspolitischen Streit um eine zweite Röhre des Gotthard-Tunnels auf der Seite der Befürworter.

Was darf Cargobike-Sharing kosten?

Perspektivisch soll sich carvelo2go neben Einnahmen aus Sponsoring auch durch die Nutzungsentgelte finanzieren. Die erste Stunde kostet fünf Franken, die 2. bis 9. Stunde jeweils zwei Franken und jede weitere Stunde einen Franken. Die maximale Verleihdauer sind 72 Stunden, das würde dann 84 Franken kosten. Zu teuer, um eine schnelle Verbreitung zu fördern? Oder angemessen, weil ein tolles Angebot mit qualitativ hochwertigen Rädern nicht unter Wert angeboten werden darf? Fragen, die auch das carvelo-Team weiterverfolgt. Die Zahl der registrierten Nutzer stieg jedenfalls innerhalb der ersten drei Monate bis Ende 2015 auf rund 350. Selbst im Winter kommen tägliche neue Registrierungen hinzu. Im Dezember wurde offiziell verkündet, dass carvelo2go im März 2016 mit 10 bis 20 Rädern auch in Basel startet – welche Räder dabei zum Einsatz kommen ist bisher ein Geheimnis. Mit weiteren Kommunen ist das carvelo-Team ebenfalls im Gespräch.

Mit Urban Arrow und Babboe von carvelo auf dem Gelände der Reitschule
Auf einen Absacker im Kulturzentraum Reithalle

Im Laufe des Abends stößt noch Florian Egermann aus Köln zu unserer Runde hinzu. Er ist ebenfalls Referent beim carvelo camp und vertritt das Projekt Kasimir – Dein Lastenrad, das die schnell wachsende Bewegung der freien Lastenräder in Deutschland maßgeblich ins Rollen gebracht hat. Im Gegensatz zu carvelo2go verfolgen die Initiativen der freien Lastenräder einen explizit nicht-kommerziellen Gemeingut-Ansatz. Die Räder können meist tageweise umsonst geliehen werden. Der Abend wird lang und diskussionsreich.

Das carvelo camp

Teilnehmerinnen und Teilnehmer des carvelo camp 2015Am nächsten Morgen beginnt das carvelo camp in der Mobilitätsakademie. Es ist DER Treffpunkt der Schweizer Cargobike-Szene – meine Basler Gesprächspartner vom Vortag, Jérome Thiriet von der Kurierzentrale und Michel Röthlisberger vom Geschäft OBST&GEMÜSE, sind auch dabei. Insgesamt kommen rund 50 Teilnehmerinnen und Teilnehmer zusammen.

Das Programm bietet Vorträge über Einsätze, Projekte und Trends sowohl bei der privaten wie der gewerblichen Nutzung. Aus Bern selbst berichtet Tobias Clemens von der DPD Schweiz AG wie bei der Paketzustellung in der Innenstadt ein Cargolbike integriert wurde. Mit über 70 Zustellungen am Tag rechnet sich der Einsatz des Bullitt mit E-Antrieb und 280-Liter Transportbox inzwischen.

Die gute Vernetzung der Mobilitätsakademie in der Bundeshauptstadt merkt man unter anderem an der Präsenz des Schweizer Bundesamt für Straßen ASTRA. Dessen „Fachverantwortlicher Veloverkehr“, Urs Walter, präsentiert Chancen und Herausforderungen die das Cargobike für den öffentlichen (Straßen)Raums bedeutet: weniger Platzverbrauch durch KfZ einerseits, Anpassungsbedarf der Radverkehrsinfrastruktur an größere Fahrradtypen andererseits.

Sehr anschaulich demonstriert das der Berner Raumplaner und Fahrradblogger Michael Liebi in seinem Beitrag zu infrastrukturellen Herausforderungen. Er hat für seinen typischen Alltagsweg von zu Hause zur Kita, zur Arbeit, zum Einkaufen, zur Kita und wieder zurück ein dreirädriges Butchers & Bicycles getestet und davon Fotos und Videos gemacht. Sein kurzes Video von einer engen Straßenbahn-Vorbeifahrt gehört für mich zu den stärksten Eindrücken des carvelo camps.

 

Cargobike-Parkplatz in der Radstation im Bahnhof von Bern
Radstation im Bahnhof Bern: Jérome Thiriet von der Kurierzentrale in Basel sitzt zur Probe bei den Kollegen aus Bern.

Zwei erfrischende Abwechslungen vom klassischen Vortragsprogramm bietet das carvelo camp. Ein „walking lunch“ zu hotspots der Berner Radverkehrsplanung inklusive Radstation im Hauptbahnhof sowie ein Panel mit NutzerInnen von Cargobikes. Ein bekannter schweizer TV-Korrespondent kommt dabei genauso zu Wort wie eine Kindergärtnerin und eine Gemüseanbau-Initiative. Sämtliche Vorträge des Tages und eine Fotodokumentation sind hier auf der carvelo-Seite dokumentiert.

Ein Urban Arrow von carvelo2go in der Fußgängerzone von Bern.Nach Konferenzende verputze ich mit dem Carvelo-Team und Jörg Beckmann noch die Buffet-Reste und der Wein bringt uns auf ein paar spannende Projektideen.

Die Mobilitätsakademie verlasse ich schließlich standesgemäß auf dem TCS-gebrandeten Urban Arrow und nutze die letzte Stunde vor Zugabfahrt für eine kleine touristische Spritztour: Über die Aare rüber, rauf zum Aussichtspunkt Rosengarten, mit einem Spitzenwert von 54 km/h steil runter zum Bärengraben und durch die lange Fußgängerzone zurück zum Bahnhof, wo ich im GenerationenHaus den Urban Arrow abgebe und dann in den Zug steige – welch großartiger Abschluss einer spannenden Cargobike-Expedition! Das nächste carvelo camp in Bern soll übrigens am 26. Oktober 2016 stattfinden.


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